Europa und die Menschenrechte: Die Geschichte einer stillen Amputation
Der Horror des Zweiten Weltkrieges hat sicher in grossem Masse dazu beigetragen, dass die westlichen Regierungen und Medien die Menschenrechte auf ihre Flaggen schrieben. Dabei waren sie jedoch immer hin- und hergerissen zwischen einem globalen, auf die UNO zentrierten Zugang und einem Zugang, der von der westlichen Kultur und ihrer Geschichte ausging.
Im Fall Westeuropas fand letzterer seine institutionelle Realisierung im Europarat, wo von Anfang an alles daran gesetzt wurde, um die Menschenrechte um die Hälfte zu amputieren, nämlich um die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (WSK-Rechte). Seit dem Beginn des Jahrtausends versuchen einige Stimmen, hier Ausgleich zu schaffen. Sie tun dies jedoch so zaghaft, dass es viele sonst gut unterrichtete Journalisten nicht einmal bemerkt haben. Es ist, Zeit, dass der Westen in diesem Feld mit einer einzigen kohärenten Stimme spricht, sonst wird er sich in den Augen eines Grossteils der internationalen öffentlichen Meinung diskreditieren.
Nach ihrer Entstehung wurde die Allgemeine Menschenrechtserklärung schnell zu einem der einflussreichsten und meistkommentierten Texte auf der Welt. Photo: United Nations, 1950. |
Die Allgemeine Menschenrechtserklärung, im weiteren "Erklärung" genannt, wurde am 10. Dezember 1948 von der UNO-Generalversammlung verabschiedet. In ihr wird eine bestimmte Anzahl Rechte aufgezählt, die man in zwei Gruppen teilen kann. Die zivilen und politischen Rechte werden in den Absätzen 3 bis 21 behandelt. Dort findet man unter anderem das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren, den Schutz gegen willkürliche Festnahme und Folter, Meinungs- und Religionsfreiheit, das Recht auf Asyl und auf Demokratie.
Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (WSK-Rechte) bilden eine zweite Gruppe und werden in den Absätzen 22 bis 27 behandelt. Dort findet man unter anderem das Recht auf Nahrung und Wohnung, auf Bildung, medizinische Versorgung, auf eine bestimmte soziale Sicherheit sowie auf die Teilnahme am kulturellen Leben.
Diese Erklärung war nicht für eine direkte Anwendung vorgesehen, sie enthält vielmehr allgemeine Grundsätze. Fast alle darin enthaltenen Rechte wurden dann in den zwei Pakten ausführlicher dargestellt, im Zivilpakt (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte) und im Sozialpakt (Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte). Diese beiden Texte, welche die beiden Gruppen der Menschenrechte gleichberechtigt behandeln, werden praktisch nie in den Medien erwähnt, dabei sind sie die einzige mögliche Grundlage, um nicht-europäische Regierungen zur Rechenschaft zu ziehen.
Stattdessen stützen sich unsere Journalisten und Reporter auf eine schon überholte Version der Texte vom Europarat. 1950, nur zwei Jahre nach der Geburt der Allgemeinen Menschenrechtserklärung in der UNO, verabschiedete der Europarat die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, auch Europäische Menschenrechtskonvention genannt (im Weiteren "Konvention"). Auch wenn der Name so aussieht, als ginge es hier um alle Menschenrechte, werden in Wirklichkeit nur die zivilen und politischen Rechte behandelt.
Das Menschenrechtsgebäude des Europarates in Strassburg, Frankreich: Ein grinsendes Gesicht, das sich über das Menschenrechtskonzept der UNO lustig macht? Photo: Europarat. |
Die WSK-Rechte (die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte) wurden in die Europäische Sozialcharta verbannt (im Weiteren "Charta" genannt), die 1961 (elf Jahre nach der Konvention) verabschiedet wurde. Im Gegensatz zu letzterer ist die Ratifizierung der Charta nicht obligatorisch für die Mitglieder der Europarates, und die Rechte werden "à la carte" präsentiert: Um sie zu ratifizieren, wählen die Länder eine bestimmte Anzahl Rechte aus und können die anderen weiter ignorieren.
In der ersten Version der Charta wurde der Begriff "Menschenrechte" nur in Bezug auf die Konvention benutzt, als würde nur diese die eigentlichen Menschenrechte betreffen. In einer revidierten Version von 1996 wurde die Präambel um einen Absatz erweitert:
unter Hinweis darauf, daß die am 5. November 1990 in Rom abgehaltene Ministerkonferenz über Menschenrechte die Notwendigkeit betonte, einerseits die Unteilbarkeit aller Menschenrechte, seien es bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Rechte, zu bewahren und andererseits die Europäische Sozialcharta mit neuem Leben zu erfüllen;
Diese Änderung wurde jedoch nicht an die grosse Glocke gehängt und von unseren Medien auch kaum zur Kenntnis genommen, und zwar aus einem guten Grund: Es ist nicht leicht zuzugeben, dass man während 46 Jahren die Menschenrecht um die Hälfte gekürzt hat…
Und doch weigert sich die Charta immer noch, eine grundlegende Eigenschaft der WSK-Rechte anzuerkennen. Alle Texte über die Menschenrechte, egal ob sie in der UNO oder im Europarat ausgearbeitet wurden, enthalten einen Paragraphen, der die Diskriminierung in all ihren Formen verbietet. Hier ist die entsprechende Stelle in der Erklärung:
Artikel 2
Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. [meine Hervorhebung]
In der Konvention finden wir eine ähnliche Bestimmung:
Artikel 14 – Diskriminierungsverbot
Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten. [meine Hervorhebung]
Selbst in der neuen Version der Charta finden wir auch einen derartigen Text, aber es fehlt ein Element in der Liste: Die Diskriminierung wegen des "Vermögens" fehlt jedoch, wie folgender Auszug zeigt:
Teil V, Artikel E – Diskriminierungsverbot
Der Genuß der in dieser Charta festgelegten Rechte muß ohne Unterscheidung insbesondere nach der Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Gesundheit, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, der Geburt oder dem sonstigen Status gewährleistet sein.
Schon in der älteren Version von 1961 war dieser mögliche Diskriminierungsgrund "vergessen" worden:
Präambel
[…] in der Erwägung, daß die Ausübung sozialer Rechte sichergestellt sein muß, und zwar ohne Diskriminierung aus Gründen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Religion, der politischen Meinung, der nationalen Abstammung oder der sozialen Herkunft;
Kann es tatsächlich sein, dass dieses Element einfach "vergessen" worden war? Diese Möglichkeit kann mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Solche Texte werden in hartnäckigen Stellungskämpfen Wort für Wort und Komma für Komma ausgehandelt. Sowohl 1961 als auch 1996 gab es einen starken politischen Willen bei wichtigen Mitgliedern der Europarates, damit Länder nicht stigmatisiert werden, wenn sie keine Anstrengungen unternehmen, damit alle, egal welche finanziellen Mittel sie haben, in den Genuss der WSK-Menschenrechte kommen.
Tatsache ist, dass auf der ganzen Welt in der überwiegenden Mehrheit der Fälle, wo jemand keinen Zugang zu Bildung oder ärztlicher Versorgung hat, dies aufgrund von Geldproblemen geschieht. Diesen Faktor auszulassen, indem man ein einziges Wort streicht, ist also ein sehr gutes Mittel, die gesamten WSK-Menschenrechte zu sabotieren.
Man braucht nur die von den "Menschenrechtsorganisationen" geschriebenen Texte zu lesen um festzustellen, dass sie mit dieser Amputierung durchaus zufrieden sind. Nach ihrer Gründung haben Human Rights Watch und Amnesty International zuerst nur die zivilen und politischen Rechte verteidigt.
2001 haben beide Organisation angekündigt, dass sie von da an alle Menschenrechte, einschliesslich der WSK-Rechte, verteidigen wollten. Anstatt sich an die UNO-Texte zu halten, haben sie jedoch das in der neuen Charta dargelegte Konzept übernommen: Eine Diskriminierung aufgrund des ethnischen Ursprungs, der Geschlechts usw. ist unakzeptabel, wenn jemand jedoch nicht in den Genuss eines Rechtes kommt, weil er oder sie kein Geld hat, ist nicht weiter schlimm.
Human Rights Watch ist zweifellos diejenige Organisation von beiden, die sich am standhaftesten weigert, für die positiven Rechte einzustehen, also für Rechte, die eine aktive Rolle der Behörden voraussetzen. Auf ihrer Website wird diese Einstellung folgendermassen gerechtfertigt:
Beschäftigt sich Human Rights Watch mit wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten?
Human Rights Watch und die meisten anderen internationalen Menschenrechtsorganisationen haben sich bisher auf bürgerliche und politische Rechte konzentriert. Wir arbeiten jedoch zunehmend auch zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten und dabei besonders zu medizinischer Versorgung, Bildung und Wohnung. Unsere Stärke besteht darin, Druck auf politische Entscheidungsträger auszuüben, damit diese ihr Verhalten ändern. Deshalb kritisieren wir willkürliche oder diskriminierende Politik, die gegen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verstößt.
Wenn hier von "willkürlicher oder diskriminierender Politik" die Rede ist, betrifft dies nur aktive Diskriminierung, wodurch die Diskriminierung "wegen des Vermögens" einfach weggewischt wird, obwohl diese in der Erklärung und im Sozialpakt der UNO ausdrücklich erwähnt werden.
Dies widerspiegelt sich in den Dokumenten, die von der Organisation produziert werden. Wenn wir z.B. die Liste der Publikationen über die medizinische Versorgung durchgehen, betrifft schon einmal ein grosser Teil die Versorgung von Gefängnisinsassen. Andere betreffen die Diskriminierung von HIV-Trägern, die Pflicht, Palliativpflege einzuführen, die Behandlung von Drogensüchtigen, der Zugang zur medizinischen Versorgung für Migranten, usw.
Diese Tendenz wird beim Lesen des Jahresberichts 2010 bestätigt. Die WSK-Rechte und die Kindersterblichkeit werden nur für ein einziges Land erwähnt, Äquatorialguinea, das in den letzten 15 Jahren dank Ölexporten schnell reich geworden ist, wo aber die soziale Entwicklung nicht nachgekommen ist. Der allgemeine Zugang zur medizinischen Versorgung wird nur zweimal erwähnt, für das eben erwähnte Land und für die Gefängnisinsassen in den USA, als wäre dieses Recht in den anderen Ländern auf der Welt überhaupt kein Problem. Die medizinische Versorgung von Gefängnisinsassen und von anderen spezifischen Gruppen ist zweifellos wichtig. Wie kann jedoch die fast vollkommene Vernachlässigung des Rechts auf Gesundheit für die Bevölkerung im Allgemeinen und die Pflicht zur Senkung der Kindersterblichkeit gerechtfertigt werden, wo diese doch ausdrücklich im Sozialpakt erwähnt werden?
Amnesty International versucht, dieses Thema im Jahresbericht 2010 ausführlicher zu behandeln, tut es aber zum Teil mit erfundenen Zahlen und interpretiert die Daten mit einer totalen Inkompetenz. Keine der beiden Organisationen versucht, Daten zu finden, mit denen man die Regierungen in Bezug auf die mit der Ratifizierung des Sozialpaktes eingegangenen Verpflichtungen zur Rechenschaft ziehen kann.
Die westlichen Medien sind am Ende dieser Wissensübermittlungskette und werden mit widersprüchlichen Informationen über die Menschenrechte und über deren Einhaltung in den verschiedenen Ländern bombardiert. Anstatt nachzuhaken und nach der Ursache für dieses Chaos zu suchen, geben sie es einfach an ihre Leser weiter. Wenn man den Diskurs von Journalisten analysiert, die für einflussreiche Medien (BBC, FAZ, NZZ, DRS usw.) arbeiten, merkt man schnell, dass sie nicht einmal eine Ahnung vom Inhalt der Allgemeinen Menschenrechtserklärung haben, geschweige denn von den zwei Pakten, die doch die einzige Grundlage sind, um aussereuropäische Länder zur Rechenschaft zu ziehen.
So hat sich der Westen selber in eine Position manövriert, wo er eine amputierte Version der Menschenrechte vertritt, was uns und die Menschenrechte im Allgemeinen nur diskreditiert. Vor allem in China hat dies unseren Ruf beschmutzt und der chinesischen Regierung Raum gelassen, um sich als Vertreterin eines UNO-konformen Menschenrechtskonzepts zu profilieren, das ausserdem der Erwartung und den Bedürfnissen eines Grossteils der Weltbevölkerung entspricht.
Der Weg aus diesem selbstgebauten Schlamassel wird hart sein, aber der einzige langfristig gangbare Weg ist eine schonungslose Hinterfragung unseres vergangenen und derzeitigen Diskurses über die Menschenrechte.