China und seine Studenten
Otto Kolbl
Die westlichen Medien beschreiben die heutigen chinesischen Studenten oft als materialistisch und apolitisch, ein williges Machtinstrument in den Händen der kommunistischen Partei. Dieses Bild stimmt jedoch überhaupt nicht überein mit der Erfahrung, die ich machen konnte, als ich ein Semester lang an der Polytechnischen Universität des Nordwestens in Xi'an, China unterrichtete. Im Vorfeld der Olympischen Spiele ist es nützlich, diese Diskrepanzen zu untersuchen, da diese Spiele auch den chinesischen Studenten Gelegenheit geben sollten, zahlreiche Leute aus der ganzen Welt kennen zu lernen.
Ein kurzer historischer Überblick über die Beziehung zwischen China und seinen Studenten kann viele heutige Phänomene erklären. Man beschreibt China oft als eine konfuzianische Kultur, die auf dem Respekt der Jugend für Eltern, Ältere und die Behörden fusst, sowie auf die Verantwortung der Eltern, Älteren und Behörden, mit ihrer wohlwollenden Autorität und weisen Führung die Jugend durch das Leben leiten. Die konfuzianischen Werte haben die chinesische Gesellschaft seit Jahrtausenden zweifellos stark geprägt, sind jedoch seit Jahrzehnten auf dem Rückzug und inzwischen vom Aussterben bedroht. Konfuzius verdankt sein Überleben bei der heutigen Jugend vor allem der Tatsache, dass er einmal gesagt hat, dass Sex genauso wichtig ist wie Speis und Trank.
Die Kulturrevolution (1966 bis 1976) war in China zweifellos der Höhepunkt des Antikonfuzianismus. Die "Roten Garden", von Mao Zedong aufgestachelte Gruppen von Jugendlichen, terrorisierten das ganze Land mit ihrer radikalen Auffassung des Kommunismus. Heute verurteilen ein Grossteil der Bevölkerung und die Behörden die Kulturrevolution als eine der schlimmsten Epochen in Chinas Geschichte, welche China in seiner Entwicklung um 20 Jahre zurückgeworfen hat. Diese Zeit hat jedoch auch die Beziehung der Chinesen mit ihrer Regierung dauerhaft verändert. Die Angriffe der Roten Garden richtete sich bei weitem nicht nur gegen "Kapitalisten" wie Unternehmer, sondern auch gegen Lehrkräfte in Schulen und Universitäten sowie gegen Beamte und Parteimitglieder, deren revolutionärer Eifer zu wünschen über lies. Die damalige Jugend wandte sich gegen alles, was die alte Ordnung und Autorität symbolisierte.
In diesem Zusammenhang muss man auch die Studentenunruhen 1989 auf dem Platz Tiananmen verstehen. Die heutigen Studenten sind durchaus informiert über die damaligen Ereignisse. Mir wurde dies auf einen Schlag klar, als eine der Klassen, die ich in China unterrichtete, mich mitten in einem Deutschkurs nach meiner Einstellung zu diesen Ereignissen fragte. Alle Studenten waren sich darüber im Klaren, dass die offizielle Bilanz die Anzahl der Opfer der Unterdrückung der chinesischen Armee stark untertrieb. Sie verurteilten einstimmig die Art, wie die chinesische Regierung damals die Studenten niedergemetzelt hat.
Man muss jedoch auch verstehen, dass die Studentenunruhen zu der damaligen Zeit in den Augen vieler Chinesen eine andere Bedeutung als heute haben konnte. Wenn sich Studenten in grosser Zahl versammelten, um gegen die Behörden, Privilegien und Korruption zu protestieren, sah dies dem Anfang der Kulturrevolution 1966 sehr ähnlich. Diese hatte ebenfalls mit einer Versammlung von unzähligen Studenten auf dem gleichen Platz Tiananmen begonnen, mit sehr ähnlichen Forderungen. Die Erinnerungen an die Kulturrevolution waren 1989 noch wach, 13 Jahre nach deren Ende. Die westlichen Medien hatten sich 1989 gefragt, warum der Rest der Bevölkerung nicht zu den Studenten gestossen war und sie unterstützt hatte. Die Erinnerungen an die Kulturrevolution sind sicher ein wichtiger Schlüssel zum Verstehen dieser Ereignisse.
Aus diesem geschichtlichen Überblick könnte man schliessen, dass die chinesischen Behörden sich vor der Jugend und den Studenten in Acht nehmen. Dementsprechend zeichnen die westlichen Medien ein Bild von materialistischen und apolitischen chinesischen Studenten, die von der chinesischen Regierung von jedem Wissen über die Aussenwelt abgeschirmt werden, vor allem im Bereich der Politik. Dies entspricht jedoch nicht der Realität in China.
Als ich 2005 in der oben genannten Universität ankam, musste ich mich natürlich schriftlich verpflichten, nicht politisch oder missionarisch aktiv zu werden. Meine erste Überraschung erlebte ich, als ich die Handbücher sah, mit denen dort Deutsch unterrichtet wurde. Im Band 4 gab es ein ganzes Kapitel über Deutschland, eines über die Schweiz und ein drittes über Österreich. Jedes Kapitel erklärte nicht nur Geschichte und Kultur des jeweiligen Landes, sondern auch ihr politisches System. Im Fall der Schweiz wurde die direkte Demokratie anhand des Referendums von 1992 über den EWR-Beitritt erklärt. Gestützt auf einen Zeitungsartikel sollten die Studenten erklären, was die Regierung wollte, und wie das Volk gestimmt hatte. Sie wurden auch aufgefordert, die politischen Systeme der Schweiz und Chinas zu vergleichen. Bei dem Lehrbuch handelte es sich nicht um aus dem Ausland herein geschmuggelte "subversive Literatur", sondern um offizielle, an einer chinesischen öffentlichen Universität entwickelte Standardwerke, die im Handel frei erhältlich waren.
Ich war bei weitem nicht am Ende meiner Überraschungen angelangt. Einer amerikanischen Lehrerin, die eine Vorlesung über einflussreiche amerikanische Autoren vom 18. und 19. Jahrhundert geben sollte, hat man zum Beispiel mehrere Namen nahegelegt, die zu den radikalsten Vertretern des demokratischen Ideals gehören.
Die Kenntnisse, welche die Studenten so in den Hörsälen erwerben, werden anschliessend gern mit allen Ausländern diskutiert, die ihnen in die Finger kommen. Die chinesischen Schulen und Universitäten tun auch ihr Möglichstes, um ihre Schüler und Studenten mit Ausländern zu versorgen. Sobald ein ausländischer Lehrer in einer Universität auftaucht, werden die Studenten von den chinesischen Lehrkräften aufgefordert, sich mit ihm zu unterhalten, mit ihm essen zu gehen oder weitere ausserschulische Aktivitäten zu unternehmen. Folglich ist man als Lehrer in einer chinesischen Universität ständig von seinen Studenten umgeben. Dass man sich dabei nicht nur über das Wetter und deutsche Grammatik unterhält, versteht sich von selbst.
Meine vorgefasste Meinung über die Einstellung der chinesischen Behörden gegenüber den Studenten erhielt den Gnadenstoss von einigen Studenten, die am "Modell-UNO-Programm" ihrer Universität teilgenommen hatten. Ein "Modell-UNO-Programm" besteht aus einer organisierten Aktivität in einer Universität, einer Hochschule oder einem Gymnasium, in welcher die Teilnehmer in Rollenspielen die verschiedenen Organe der UNO simulieren und so die Probleme dieser Welt zu lösen versuchen. Solch eine Simulation kann z.B. die Generalversammlung, den Sicherheitsrat oder die Menschenrechtskommission zum Gegenstand haben.
Die teilnehmenden Studenten müssen sich also über die verschiedenen Aspekte eines internationalen Konflikts informieren. Die nötigen Informationen dazu suchen sie meistens auf Internet. Eine Person nannte mir zwei Websites, auf die sie häufig zugriffen: die offizielle Website der UNO, und die Website der CIA, des amerikanischen "Geheimdienstes", die zahlreiche Daten über alle Länder der Welt enthält. Die Studenten werden dann in Teams aufgeteilt, wobei jedes Team eine der Parteien in diesem Konflikt in einem Rollenspiel vertritt. Die Teams müssen versuchen, den Konflikt zu lösen, indem sie sich auf eine Resolution einigen.
Diese Aktivitäten finden zuerst auf der Ebene der einzelnen Schulen oder Universitäten statt. Eine Versammlung auf nationaler Ebene erlaubt anschliessend ein Treffen zwischen zahlreichen Delegationen von verschiedenen Universitäten. Der jährliche Höhepunkt ist der Weltgipfel des Modell-UN-Programms, der jedes Jahr in einem anderen Land stattfindet. Dabei kommen Jugendliche und Studenten aus mehreren Duzend Ländern zusammen. Auf dem Programm stehen sowohl organisierte Simulationen als auch soziale Aktivitäten, wo von Aussenpolitik begeisterte Studenten einander kennen lernen und miteinander über ihr Hobby diskutieren. Die Universität, wo ich unterrichtete, subventioniert so regelmässig die Reise von Studenten zu diesen Weltgipfeln im Ausland, unter anderem in New York.
Der Weltgipfel des Modell-UN-Programms 2006 fand übrigens in Beijing statt. 1500 Delegierte aus 37 Ländern, darunter auch Delegationen von schweizerischen Universitäten, kamen dort zusammen, um mit Delegierten von zahlreichen chinesischen Universitäten über Aussenpolitik zu sprechen.
Es sollte inzwischen klar geworden sein, dass das Bild, welches die westlichen Medien von der Beziehung zwischen Behörden und Studenten in China zeichnet, in nichts übereinstimmt mit den Erfahrungen, die ich selbst während meiner Aufenthalte in China machen konnte.
Welche Bedeutung hat dies in Bezug auf die Olympischen Spiele? Diese Spiele, genau wie der Weltgipfel des Modell-UN-Programms 2006, sollte zahlreichen Chinesen die Möglichkeit geben, viele Ausländer kennen zu lernen und umgekehrt. Sie sollten zusammen über alles Mögliche diskutieren, unter anderem über die grosse Welt und die Herausforderungen, denen wir uns in den nächsten Jahrzehnten stellen müssen. Seit sieben Jahren bereitet China dieses Fest vor. Es macht mich einfach traurig zuzusehen, wie so viele Stimmen systematisch daran arbeiten, es zu zerstören. Es wäre eine einmalige Gelegenheit für einen direkten Kontakt zwischen den Kulturen, ohne die zwischengeschalteten Medien, die sich auf beiden Seiten in ihren Stellungen eingegraben haben.