Das chinesische Mao-Deng-Entwicklungsmodell
Otto Kölbl
Die chinesische Kombination von einem auf sozialen Fortschritt zentrierten Maoismus mit einer sehr langsamen Liberalisierung unter Deng Xiaoping erweist sich als extrem effizientes Entwicklungsmodell. Aus ideologischen Gründen werden Maoismus und Dengs Reformpolitik leider meist als gegensätzlich betrachtet. Nur ein Vergleich mit anderen Entwicklungsländern, der sich auf solide Langzeitstatistiken stützt, erlaubt es uns, die positive Interaktion zwischen beiden zu verstehen.
Die Diskussion über Chinas Entwicklung unter der Kommunistischen Partei Chinas beschränkt sich oft auf die Frage, ob Maoismus die richtige Lösung war oder ob Maos Politik eine Katastrophe war und Deng Xiaoping China wieder auf die richtige Bahn gebracht hat. Die Diskussion ist gelinde gesagt sehr polarisiert. Unter westlichen Akademikern und Medienschaffenden ist praktisch nur eine einzige Ansicht vertreten: wer Mao nicht als einen blutrünstigen Diktator und eine Katastrophe für China betrachtet, kann nicht frei denken und wurde von der kommunistischen Propaganda einer Gehirnwäsche unterzogen. Aus einem Vergleich mit der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung in anderen Ländern geht jedoch hervor, dass die Kombination von einem auf sozialen Fortschritt zentrierten Maoismus mit einer extrem langsamen Liberalisierung unter Deng Xiaoping geradezu optimal war. China konnte sich so schneller entwickeln als jedes andere Land der Welt. Dies gilt nicht nur für die wirtschaftliche Entwicklung, sondern auch für die soziale Entwicklung wie die Senkung der Sterblichkeit und die Alphabetisierung.
Die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen sollten immer im Zentrum von jeglicher Diskussion über Entwicklung stehen. Foto Otto Kölbl, Siping (Jilin-Provinz, China), 2012.
Dies mag überraschend klingen, vor allem, wenn wir die Unterschiede im Entwicklungsniveau zwischen Festland-China einerseits und Japan, Hong Kong, Südkorea, Taiwan, Singapur usw. andererseits betrachten. Ein Blick auf die langfristige Entwicklung dieser Länder und Region zeigt jedoch, dass die Unterschiede nicht mit der unterschiedlichen Geschwindigkeit der Entwicklung zusammenhängen, sondern mit dem Zeitpunkt, wo die Entwicklung anfing.
Die zwei nächsten Grafiken zeigen eindrücklich, dass fast alle Länder in Asien und die chinesischen Gebiete unter Fremdherrschaft meist zwischen 1850 und 1900 mit ihrer Entwicklung anfingen. Im Gegensatz dazu weisen diese Statistiken überhaupt keine Entwicklung für Festland-China vor 1949 vor. Diese Grafiken basieren auf dem kaufkraftbereinigten pro-Kopf BIP, das als der beste Indikator für Entwicklungsniveau und Lebensstandard betrachtet wird. Statistiken für die Jahre vor 1950 sind oft umstritten und die untenstehenden Grafiken basieren auf mehreren unterschiedlichen Quellen, die sich einander manchmal widersprechen. Die Experten sind sich jedoch über die ungefähren Trends einig. Es ist z.B. allgemein anerkannt, dass im China der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einige grosse Städte sich entwickelten, dass in den meisten ländlichen Gebieten die Lebensqualität hingegen absackte.
Die erste Frage, die wir uns als stellen müssen, ist, warum Festland-China fast die einzige Region Asiens war, die vor der Machtergreifung der Kommunisten 1949 kaum irgendeine Entwicklung sah. Die Opiumkriege und der darauf folgende Opiumhandel haben sicher eine Rolle gespielt; die Auswirkungen auf die chinesische Gesellschaft dieses schändlichen Kapitels der europäischen Kolonialgeschichte werden von westlichen Autoren oft deformiert. Andererseits hatten alle anderen Regionen Asiens auch ihren Anteil an kolonialer Aggression, die in manchen Fällen sogar destruktiver war als in China. Die Schlussfolgerung meiner Forschung ist, dass die hoch kultivierte Elite Chinas, teilweise unter westlichem Einfluss, jegliches Verantwortungsgefühl verlor. Seit ca. 1800 war diese Elite so korrupt und ausschliesslich auf den Erhalt ihre eigenen Privilegien bedacht, dass sie unfähig war, in China irgendeinen Entwicklungsprozess in Gang zu setzen. Dies erklärt auch, warum Opium für die chinesische Gesellschaft so zerstörerisch wurde, während die Eliten von anderen Ländern sich selbst und die ganze Gesellschaft vor diesem Übel weitgehend schützen konnten, dem sie ja auch ausgesetzt waren.
Schlafmohn und Terrassen-Reisfelder, von Frau Archibald Little, Sichuan-Provinz (China), vor 1899. Wie dieses Bild und viele andere zeigen, wurde nur ein Teil des Opiums, das in der chinesische Gesellschaft vor 1949 verheerende Schäden anrichtete, von britischen Handelsfirmen importiert; der grösste Teil davon wurde in China angebaut. Finden Sie Frau Archibald Littles faszinierendes Buch "Intimate China" gratis auf www.archive.org und www.gutenberg.org.
Die Grafiken zeigen eine Gemeinsamkeit zwischen allen asiatischen Ländern, die von einer Phase schnellen Wachstums profitieren konnten: Keines von ihnen konnte von einer armen, auf Landwirtschaft basierenden Wirtschaft direkt zu schnellem Wachstum übergehen. Dazwischen findet man immer eine Phase mit langsamem Wachstum, die in manchen Fällen ca. 50 Jahre, manchmal auch fast ein Jahrhundert oder sogar länger dauert ("Phase I" in der obenstehenden Grafik). Erst nach dieser ersten Phase, in der Infrastruktur, Bildung, Gesundheitssystem und ein Anfang an Industrialisierung aufgebaut wurden, konnte die Phase II beginnen, die von schnellem Wirtschaftswachstum geprägt ist. Dies gilt sowohl für Länder, die jetzt weiter entwickelt sind als China, als auch für Länder, in denen gemässigter oder schneller Wachstum später als in Festland-China einsetzte. Die folgende Grafik zeigt die Wachstumskurven für weitere Länder Asiens und für die (Ex-) Sowjetunion, d.h. nach 1990 für ihre Nachfolgerstaaten zusammengenommen.
Maos Beitrag zum Entwicklungsmodell
China ist das einzige Land auf der Welt, das schon nach 27 Jahren langsamen Wachstums unter Mao Zedong (1949-1976) zu schnellem Wachstum überging. Die zweite fundamentale Frage ist deshalb: Was machte die Entwicklung unter Mao Zedong so effizient, dass die Basis für schnelles Wachstum doppelt so schnell wie in jedem anderen Land auf der Welt aufgebaut werden konnte? Die Leistung der KP China ist umso eindrücklicher, als sie das Land mit den grössten Probleme der Region ("China, der kranke Mann Asiens") in dasjenige mit der eindrücklichsten Entwicklung verwandelte.
Die Skyline von Dalian (Liaoning-Provinz, China). Photo Otto Kölbl, 2012.
Historische Dokumente und Statistiken zeigen, dass Mao Zedong dies durch Kollektivierung und seine Massenmobilisierungskampagnen bewerkstelligte, durch die er die enormen Arbeitskräfte auf dem Land organisierte. In einem extrem armen Land wie China war dies wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, um in so kurzer Zeit Infrastruktur, Bildung und Gesundheitssystem auf ein Niveau zu bringen, das für schnelles Wirtschaftswachstum nötig war. Von internationalen Organisationen wie der Weltbank und westlichen Akademikern gelieferte Statistiken zeigen, dass Maos soziale Politik Hunderte von Millionen Menschenleben gerettet hat, während die späte Qing-Dynastie (bis 1911) und die Nationalisten (1912-1949) nichts getan haben, um das Los eines Grossteils der Bevölkerung zu verbessern. Die folgende Grafik bietet eine gute Übersicht sowohl über den sozialen Fortschritt unter Mao als auch über seinen grössten Fehler, den "Grossen Sprung nach vorn", im Vergleich zu anderen ostasiatischen Ländern:
Die Lebenserwartung in China vor dem Zweiten Weltkrieg ist ein heiss umstrittenes Thema mit vielen widersprüchlichen Schätzungen. Daten für Japan und seine Kolonie Taiwan sowie für Indien, Russland und die westlichen Staaten sind viel zuverlässiger. Ab 1950 sind verlässliche Daten für die meisten Länder verfügbar. Für China zwischen 1953 und 1963 benutze ich Daten von einem Experten der Weltbank, da die offiziellen Statistiken inadäquat sind. Trotz dieser Unzulänglichkeiten entsteht ein recht klares Bild: ausgehend von einer sozialen Lage, die schrecklicher war als in praktische jedem anderen Land auf der Erde, hat die Lebenserwartung in China unter Mao Zedong enorme Fortschritte gemacht, wie kein andere Land auf der Welt. Die folgende Grafik erlaubt einen Vergleich mit weiteren Ländern:
Nicht nur unter ostasiatischen Ländern, die heute einen hohen Lebensstandard geniessen, auch unter Ländern in Lateinamerika und sogar Afrika ist es schwer, ein Land zu finden mit einer derart verzweifelten sozialen Lage wie diejenige in China, bevor die Kommunistische Partei 1949 an die Macht kam.
Für die Kindersterblichkeit erhalten wir ein ähnliches Bild wie für die Lebenserwartung. Solide Daten über den sozialen Fortschritt unter Mao Zedong sind verfügbar; Akademiker, die uns über diese wichtige Epoche in der Geschichte Chinas informieren wollen, ignorieren sie jedoch. Genau genommen ignorieren sie sie nicht ganz; sie klauben nur die Stücke heraus, die in ihren Diskurs passen. In Bezug auf die Lebenserwartung etwa nehmen sie nur den Grossen Sprung nach vorn und berechnen die Anzahl Toten. Katastrophen, vor allem von Menschhand verursachte, dürfen nicht vergessen werden, denn nur so können ähnliche Ereignisse in der Zukunft vermieden werden. Werden uns diese Akademiker aber erklären, dass die Lebenserwartung selbst im schlimmsten Jahr dieses Desasters nicht unter Werte fiel, die bis zehn Jahre zuvor, unter der späten Qing-Dynastie und unter den Nationalisten, die Norm waren? Oder dass die KP China in den 20 Jahren nach ihrer Machtergreifung die Lebenserwartung von wahrscheinlich 30 Jahren oder weniger auf mehr als 60 Jahre verdoppelte? Hat jemand mal versucht, die Anzahl dadurch geretteter Leben zu berechnen, im Vergleich zu einer fortfahrenden Machtausübung durch die Nationalisten, die sich nie um eine Verbesserung der Lebensbedingungen auf dem Land gekümmert haben?
Chirurgie unter Akupunkturnarkose im Volksspital der Provinz Shandong (Jinan, China). Foto William A. Joseph, 1972.
Das bedeutet natürlich nicht, dass China unter Mao ein Paradies für Bauern war. Damit er die Entwicklung weiter treiben konnte, als was mit der Verbesserung der Landwirtschaft möglich war, presste Mao jeden Cent aus der Bevölkerung, um die Industrialisierung zu finanzieren. Auch wenn sich die Lebensbedingungen während dieser Zeit stark verbessert haben, war ein Grossteil der Bevölkerung immer noch extrem arm, als am Ende der 1970er Jahre die Reformen anfingen.
Man kann auch Entwicklung nicht einfach nur auf die sozio-ökonomischen Aspekte reduzieren. Fortschritte in diesem Bereich wurde erreicht durch Unterdrückung gegen die frühere privilegierte Elite, gegen politische Gegner innerhalb und ausserhalb der Partei und gegen viele, viele Unschuldige. Ganz allgemein gab es extrem wenig individuelle Freiheit unter Mao Zedong. Der chinesische Staat während dieser Epoche war ein perfektes Beispiel eines totalitären Staates. Nicht nur das öffentliche Leben, auch viele Aspekte des privaten Lebens wurden vom Staat oder von den lokalen Gemeinschaften gemäss offiziellen Richtlinien kontrolliert. Die gesamte Gesellschaft war in Kommunen, Brigaden und Arbeitsteams gegliedert; selbst für das Reisen ausserhalb der eigenen Kommune brauchte man eine Reisegenehmigung.
Ein Arbeitsteam in Shashiyu (Hebei-Provinz, China), terrassiert Felder. Wenn man Bauern fragt, wann die landwirtschaftliche Infrastruktur, die sie benutzen, aufgebaut wurde, bekommt man auch heute noch oft die Antwort: "In den 70er Jahren." Foto William A. Joseph, 1972.
Ausserhalb dieser institutionalisierten Formen der Kontrolle stützte sich Mao in noch grösserem Ausmass auf die Mobilisierung der lokalen Gemeinschaften, um seine Politik durchzusetzen. Die von den Dorfgemeinschaften durchgeführte Landverteilung in den frühen Jahren und die Roten Garden während der Kulturrevolution in den zehn letzten Jahren des Maoismus sind Beispiele dieser weniger organisierten Formen der Gewalt. Wenn wir uns vor Augen halten, dass all dies ohne viel Aufsicht durch die Behörden geschah, wird schnell klar, dass sich diese Gewalt oft gegen unschuldige Opfer richtete.
Während der Kulturrevolution vergriffen sich die Roten Garden nicht nur an korrupten Beamten und an Mitgliedern der traditionellen Elite, die ihre Privilegien zurückhaben wollten. Viele Leute, die hart daran arbeiteten, China zu entwickeln, aber aus der "falschen" Gesellschaftsschicht kamen oder ihren religiösen Glauben nicht aufgeben wollten, wurden die Zielscheibe brutaler Formern der Demütigung und Gewalt. Fotos 1 und 2: Fotograph unbekannt, bereitgestellt von Thomas H. Hahn. Foto 3: Fotograph unbekannt.
All dies muss man im Kontext eines Landes sehen, das vor 1949 durchaus mit heutigen Ländern wie Afghanistan und Somalia verglichen werden kann. China (1916-1928), Afghanistan (1989-1998) und Somalia (1991-2012) haben alle eine Phase durchgemacht, wo der Staat vollkommen zusammenbrach und zahllose Kriegsherren untereinander um die Macht kämpften. Zwischen 1850 und 1949 hat China nur 46 Jahre Frieden gekannt zwischen 1870 und 1916, unterbrochen vom Boxeraufstand 1899-1901 und dem Sturz der Monarchie 1911. Die neun Jahre zwischen 1928 und 1937 waren in grossen Teilen des Landes auch relativ friedlich. Ansonsten bestand ca. die Hälfte dieses Jahrhunderts aus einer Folge von Kriegen, Bürgerkriegen, Aufständen und einer Kriegsherrenphase. Als die Kommunistische Partei 1949 an die Macht kam, war die chinesische Gesellschaft vollkommen aus den Fugen geraten, geplagt von Gesetzlosigkeit und weit verbreiteter Rauschgiftsucht (vor allem in der herrschenden Elite), strukturiert mehr von lokalen Tyrannen und vom organisierten Verbrechen als von einer funktionierenden Verwaltung.
Opiumraucher während der Monarchie. Während der Qing-Dynastie und unter den Nationalisten was das Opiumrauchen in den gehobenen Gesellschaftsschichten viel weiter verbreitet als in der allgemeinen Bevölkerung. Foto Lai Afong, ca. 1880.
Während der letzten anderthalb Jahrhunderte haben nur wenige Länder auf der Welt solch eine endlose Reihe an Desastern durchgemacht. Wir können ohne weiteres davon ausgehen, dass jeder einzelne Chinese versucht hat, eine Lösung zu finden. Einigen gelang es fast, die Ordnung wiederherzustellen, mussten jedoch ohnmächtig zusehen, wie das Land nach einigen Jahren oder Jahrzehnten relativer Stabilität, aber ohne Entwicklung, wieder im Chaos versank. Man muss der KP China zu Gute schreiben, dass sie in China nicht nur die Ordnung wiederhergestellt, sondern auch den schnellsten sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsprozess durchgeführt hat, den die Welt je sah. Wenn man sich nur das totale Scheitern der vom Westen in Ländern wie Somalia, Afghanistan, Irak und Libyen durchgesetzten Rezepte ansieht, bekommt man sofort ein bisschen Respekt vor der in China vollbrachten Leistung.
Wir können sicher eine Menge von Maos Epoche lernen; Forschung über dieses Thema muss sich jedoch auf ausführliche Daten über alle verschiedenen Aspekte des menschlichen Lebens stützen. Zuverlässige Daten, die von internationalen Organisationen oder von unabhängigen Forschern ausgearbeitet oder überprüft wurden, sind verfügbar. Auf Mao Zedong spezialisierte Forscher neigen jedoch dazu, alle Daten über den sozialen Fortschritt unter diesem Regime zu ignorieren. Wenn sie einiges davon erwähnen, gehen sie meistens davon aus, dass ein einziger Satz genügt, und es werden kaum Zahlen genannt, die einen Vergleich mit dem Entwicklungsprozess in anderen Ländern erlauben. Niemand scheint sich darum zu kümmern, dass diese Statistiken über Menschen berichten, die entweder gerettet werden konnten oder starben, oft unter schrecklichen Umständen. Stattdessen werden nur die Toten gezählt, die auf politische Fehlentscheide oder Repression zurückzuführen sind, und die Schlussfolgerung ist immer dieselbe: Mao war einer der schlimmsten Diktatoren des vergangenen Jahrhunderts.
In China gibt es eine erheblich grössere Diversität in der Auseinandersetzung über Mao Zedong, sie stützt sich aber meistens nur auf offizielle chinesische Statistiken. Die Diskussion wird so zu einer Frage des Vertrauens in das Nationale Chinesische Statistikamt, was eine Einigung zwischen pro-Mao und anti-Mao in weite Ferne rückt. Sowohl chinesische als auch westliche Forscher müssen lernen, ideologische Vorurteile zu überwinden. Dies bedeutet unter anderen, dass man genauso viel Zeit und Anstrengung darin investiert, Daten zu suchen, die den eigenen Ansichten widersprechen, wie Daten, die sie bestätigen.
"Mama beim Lesen und Schreiben lernen helfen". Grundschule und Sekundarschule sahen enorme Fortschritte unter Mao. Schulen wurden nicht nur für Kinder gegründet; der Erwachsenenbildung wurde ebenfalls hohe Priorität eingeräumt. Andererseits kann man für die Hochschulbildung bestenfalls eine gemischte Bilanz ziehen. Fotos: China Posters (links), William A. Joseph, 1972 (rechts).
Die Bedeutung dieser Frage geht weit über eine akademische Diskussion hinaus. Unter anderem ist dieses Thema ein wichtiger Faktor in der Kommunikation zwischen den Generationen in China. In vielen Familien gibt es regelmässig lebhafte Diskussionen zwischen einerseits den Grosseltern, die sich an das Leben unter Mao und manchmal noch vor ihm erinnern; viele von ihnen äussern sich sehr positiv über Maos Errungenschaften. Auf der anderen Seite betrachten viele von der mittleren und jüngeren Generation Maos Handhabung der wirtschaftlichen Entwicklung als eine Katastrophe für China; sie argumentieren, dass die älteren Generationen immer noch unter dem Einfluss von Maos Propaganda stehen und über dieses Thema nicht klar urteilen können. In meinen Diskussionen mit Chinesen jeden Alters habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass man es mit einer Mischung von Daten aus chinesischen und internationalen Quellen oft schafft, dass Leute mit unterschiedlichen Ansichten sich wenigstens über bestimmte Fragen einigen. Die hier vorgeschlagene Forschungsmethode kann also nicht nur zwischen China und dem Westen, sondern auch innerhalb der chinesischen Gesellschaft das gegenseitige Verständnis fördern.
Reformen und Öffnung unter Deng Xiaoping und seinen Nachfolgern
Die Art und Weise, wie Deng Xiaoping und seine Nachfolger, aufbauend auf Maos Hinterlassenschaft, schnelles Wirtschaftswachstum und eine beeindruckende Verbesserung des Lebensstandards erreicht haben, ist ebenfalls einzigartig. Kein anderes Land hat es je geschafft, ausgehend von so einem niedrigen Entwicklungsniveau schnelles Wachstum zu erreichen.
Die Flying Eagle Boat Company, hier während der Einweihung eines neuen Produktionsstandortes, wurde in den 1980er Jahren gegründet. Sie wurde schnell zu einem der marktführenden Hersteller von Rennruderbooten. Foto Otto Kölbl, Zhejiang-Provinz (China), 2003.
Andere Länder wie die Sowjetunion haben ebenfalls Kollektivierung und Planwirtschaft für die erste Entwicklungsphase benutzt, der Übergang zu schnellem Wachstum ging jedoch nicht immer gut. Die zweite Grafik oben zeigt beeindruckend, wie die Wirtschaft der Nachfolgerstaaten der ehemaligen Sowjetunion vollständig zusammenbrach, nachdem in den 1990er Jahren liberale Reformen eingeführt wurden.
Wenn wir davon ausgehen, dass eine gute Infrastruktur, Bildung, Gesundheitswesen und ein bestimmter Grad an Industrialisierung eine notwendige Grundlage für schnelles Wachstum sind, wird klar, dass die Sowjetunion schon lange vor 1990 die Bedingungen für einen Wirtschaftsboom erfüllte. Während in China der Maoismus nach 27 Jahren von Dengs Reformen abgelöst wurde, blieb der Ostblock mehr als 70 Jahre lang in der Planwirtschaft stecken. Das aufgebaute Wachstumspotential wurde nicht realisiert, was die Kommunistische Partei in den Augen der Bevölkerung diskreditierte. Als 1990 die Reformen kamen, hatte China schon mit mehr als einem Jahrzehnt schnellen Wachstums den Weg gezeigt. Sowohl die sowjetischen Leader als auch ihre westlichen Berater waren jedoch zu arrogant, um auch nur daran zu denken, dass sie von China etwas lernen könnten.
Was hätte die Sowjetunion denn von China lernen können? Dengs Rezept war nicht einfach "wirtschaftliche Liberalisierung", wie es heute oft dargestellt wird, sondern eine extrem langsame Liberalisierung, die sich voraussichtlich über eine Zeitspanne von mehr als 50 Jahren hinzieht. Auch jetzt noch, mehr als 35 Jahre nach Beginn der Reformen, werden weitere Wirtschaftssektoren nach und nach liberalisiert.
Andere Aspekte des chinesischen Systems sind nicht so einfach zu verstehen. Sowohl westliche als auch chinesische Experten malen oft das Bild einer Kommunistischen Partei, die Leben und Wirtschaft bis ins kleinste Detail beherrscht. Einige Schlüsselsektoren der chinesischen Wirtschaft wie das (legale) Bankensystem, Energie, Telekommunikationen usw. werden vollkommen vom Staat beherrscht. Bei Gesprächen mit Unternehmern, vor allem mit Besitzern von kleinen Familienbetrieben, war ich hingegen oft verblüfft darüber, wie wenig sich der Staat in ihre Aktivitäten einmischte. Im Vergleich zu anderen Ländern ist der administrative Papierkram auf ein Minimum reduziert; die Gesetzgebung und anderes Regelwerk sind recht vage und werden oft ziemlich kreativ angewendet. Nur wenn die Partei meint, dass es irgendwo ein ernsthaftes Problem gibt, schreitet sie ein; die schwammige Gesetzgebung steht ihr dabei nicht im Weg.
Im Unterschied zum Unterhaltungselektronikdetailhandel in westlichen Ländern besteht der Unterhaltungselektronikmarkt von Zhongguancun in Peking aus unzähligen kleinen Familienunternehmen. Foto Otto Kölbl, Peking (China), 2012.
Solch ein System fördert offensichtlich die Schaffung von neuen Unternehmen; andererseits bietet es kaum Schutz gegen Missbrauch, z.B. durch Geschäftspartner. Was wie eine Katastrophe für die wirtschaftliche Entwicklung klingt, ist in Wirklichkeit eines der Geheimnisse von Chinas Entwicklung: Dieses relativ unsichere Geschäftsumfeld fördert kleine Familienunternehmen, die innerhalb von geschlossenen lokalen Gemeinschaften funktionieren. Da jeder jeden kennt, sind die Transaktionskosten sehr niedrig. Das Fehlen von anspruchsvollem Papierkram erlaubt es selbst Bauern mit wenig formaler Bildung, ihr eigenes Unternehmen zu gründen. Die formale Komplexität des "Rechtsstaats" würde die meisten heutigen Kleinunternehmer aus dem Geschäft drängen; grosse nationale und internationale Unternehmen würden sich den Markt aufteilen, wie das oft in westlichen Ländern der Fall ist.
Die muslimische Hui-Minderheit, hier erkennbar an der Moschee im Vordergrund und ihren gelben und grünen Häusern, sind ein gutes Beispiel für eine eng verbundene Gemeinschaft mit beträchtlichem wirtschaftlichem Erfolg. Foto Otto Kölbl, Taktsang Lhamo/Langmusi (Gansu-Provinz, China), 2012.
Dies sind nur zwei von vielen Faktoren, die zum Erfolg der 1978 angefangenen Reformen beigetragen haben. Leider interessieren sich weder westliche noch chinesische Forscher dafür, denn sie konzentrieren sich mehr auf prestigeträchtige High-Tech-Firmen und internationale Kontakte.
Zusammenfassend wird klar, dass Chinas Mao-Deng-Entwicklungssystem viele innovative Lösungen für arme Länder bietet. Die Ausarbeitung und Implementierung dieses Systems durch die Kommunistische Partei hat es China erlaubt, sich schneller als jedes andere Land der Welt zu entwickeln, sowohl vom wirtschaftlichen also auch vom sozialen Gesichtspunkt. Die Entwicklungsmodelle von vielen anderen Ländern und Regionen Asiens können hingegen nicht auf derzeit arme Länder übertragen werden, weil sie auf Militarismus beruhen (Japan), zu stark von Fremdherrschaft und Entwicklungshilfe abhängig waren (Südkorea und Taiwan) oder ihre Entwicklung auf der parasitären Nutzung von naheliegenden Produktionsstandorten basierte (Hong Kong und Singapur).
Es ist höchste Zeit für eine Analyse des chinesischen Entwicklungsmodells anhand von soliden Daten, im Vergleich mit der Entwicklung von anderen Ländern und Regionen Asiens und der Welt. Nur so kann die Leistungsfähigkeit der verschiedenen bekannten Entwicklungsmodelle bewertet werden. Internationale Organisationen und westliche Experten für soziale und wirtschaftliche Entwicklung bieten eine grosse Menge an Daten über die verschiedenen Länder der Erde. Diese Daten wurden mit der gleichen Methodologie für jedes Land berechnet und sind deshalb weitgehend frei von ideologischer Voreingenommenheit.
Dies kann man leider nur selten sagen über die Art und Weise, wie westliche Chinaexperten mit diesen Daten umgehen. Die meisten von ihnen wiederholen ständig das gleiche Mantra: Mao mit seiner Politik der Isolation und Kollektivierung war eine totale Katastrophe und Deng Xiaoping hätte durch eine grössere Öffnung zum Ausland und einer schnelleren Liberalisierung bessere Ergebnisse erzielen können. Sinologen und die westlichen Medien haben das chinesische kommunistische Regime immer gern als absurd in seinem Funktionieren, irrational und unmenschlich dargestellt. Wie kann solche eine Beschreibung angesichts der hier angeführten Daten aufrechterhalten werden? Wie war es möglich, dass Chiang Kaishek der Bevölkerung keinerlei nennenswerte Verbesserung der Lebensbedingungen bieten konnte, wenn sich doch die westlichen Staaten gegenseitig in der Entwicklungshilfe überboten? Wie konnte ein absurdes, irrationales und unmenschliches Regime nach 1949 nicht nur schnellere Wirtschaftsentwicklung, sondern auch schnelleren sozialen Fortschritt erzielen als jedes andere Land der Welt? Ich finde es sehr enttäuschend, dass westliche China-Experten die hier benutzten Daten nicht ansehen, obwohl sie leicht zu finden sind. Ein Grund dafür mag sein, dass sie es sich nicht eingestehen wollen, dass es China ohne ihre "Hilfe" viel besser geht als mit.
Missionare haben nicht nur viele Fotos von China vor Mao gemacht, wie hier von einer Operation in Changde (Hunan-Provinz, China), ca. 1900-1919. Sie haben auch zu einer Verbesserung von Bildung und Gesundheitswesen beigetragen. Es mag paradoxal erscheinen, dass ein Grossteil der Bevölkerung warten musste, bis Mao an die Macht kam und alle Missionare auswies, damit sich ihre Lage in Bildung und Gesundheit endlich verbesserte. Quelle: International Mission Photography Archive auf Wikimedia Commons.
Es ist für mich viel schwerer nachvollziehbar, warum chinesische Forscher nie realisiert haben, dass von internationalen Organisationen und westlichen Experten bereitgestellte Daten es erlauben, das chinesische Entwicklungsmodell viel besser zu erklären, als wenn wir nur chinesische offizielle Statistiken benutzen. Nur wenige unter ihnen sind je in andere Entwicklungsländer gereist, um selber die Auswirkungen von weiteren Entwicklungsmodellen vor Ort zu sehen. Das Fehlen einer vergleichenden Erforschung ist sicher einer der Gründe, warum der chinesische Entwicklungsprozess im Ausland kaum verstanden wird. Diejenigen, die sorgfältig nur diejenigen Daten auswählen, die ihrer Kritik des kommunistischen Regimes förderlich sind, habe so freie Bahn.
Seriöse komparative Forschung über das Mao-Deng-Entwicklungsmodell wird nicht nur dem gegenseitigen Verständnis zwischen China und dem Rest der Welt förderlich sein; es wird auch wertvolle Daten liefern für Länder, die nach wie vor nach einem Modell suchen, um die Lebensbedingungen ihrer Bevölkerung zu verbessern. Im Gegenzug kann China so neue Ideen finden für die Entwicklung der Regionen, die noch nicht in den Genuss des Wirtschaftsbooms der Küstenregionen gekommen sind.
Der Schweizer Bergtourismus und der lateinamerikanische Abenteuertourismus können erheblich zur Entwicklung von Chinas westlichen Regionen beitragen. Foto Otto Kölbl, Zermatt (Schweiz) 2014; Coroico (Bolivien) 2011.